
Mitte März 2020. Der Bundesrat verkündet den Lockdown. Menschen dürfen sich wegen des Corona-Virus nicht mehr frei bewegen. «Bleibt zuhause» wird jüngeren Generationen empfohlen und älteren befohlen. Dem Land wird der Stecker gezogen. Parks, Einkaufsläden und Kaffees, Orte der Begegnung und der sozialen Kommunikation schliessen. Gegenseitige Besuche werden verboten, Grosseltern von ihren Familien getrennt. Die Schweiz im Ausnahmezustand.
«Es muss etwas geschehen», sagt sich die Musikerin Stefanie Braun. Es ist Sonntag, 22. März, sie spaziert der Sihl entlang und überlegt, was sie für die besonders verletzlichen und isolierten Menschen tun könnte. Für jene, die in Alters- und Pflegeheimen wohnen, dort sicher gut betreut werden, aber sonst von der Welt abgeschnitten und von ihren Lieben getrennt sind.
Stefanie lebte lange in Venedig. Von dort kannte sie die «Balconata». Musikerinnen und Musiker stehen auf Balkonen, spielen und singen. Die Menschen unten auf Plätzen und in Gassen lauschen. Ist das Konzert fertig, klatschen und jubeln sie und das Stadtleben geht weiter.
Ich habe die Idee, sagt sich Stefanie! Wir drehen die Balkonkonzerte einfach um. Wir sind im Hof und im Garten und die Zuhörerinnen und Zuhörer bleiben auf ihren Balkonen oder am Fenster. Von unten bringen wir die Musik zu ihnen hinauf.
Zwei Tage später macht Stefanie nochmals den gleichen Spaziergang der Sihl entlang. Aber zusammen mit der Musikerin Anne Hinrichsen und dem Musiker Alexander Ponet. Sie kennen sich und haben schon zusammen musiziert. Die kleine Gelateria Rosso Arancio am Stauffacher in Zürich hat noch nicht richtig geschlossen. Die drei setzen sich und kommen mit dem Gelataio ins Gespräch. Die Idee begeistert ihn: «Ah, quasi una serenata wollt Ihr machen». Und so kommt das Projekt zu seinem Namen: «La Serenata» – und zum Motto: «You stay at home, we bring the music», Ihr bleibt zuhause, wir bringen Euch die Musik.
Nun steht das Projekt, es kann losgehen. «Unser Hygiene- und Gesundheitsprotokoll ist einfach. Wir brauchen nur eine Steckdose, die wir nachher desinfizieren. Wir berühren nichts, betreten nichts. Die maximale Sicherheit für die Bewohnerinnen und Bewohner hat oberste Priorität. Wir bieten sie, sichert Stefanie zu.
Rasch wird eine Website aufgeschaltet: www.laserenata.org. Die Musikerin Anne wird spontan zur Webmasterin und vollbringt gestalterische Wunder. Alexander, der dritte im Bund, findet in kurzer Zeit Instrumente und organisiert die kleine, charmante Ape bei Giannini Drums. Sie wird das Trio fortan begleiten. Stefanie hat derweilen bereits verschiedene Alterszentren in der Stadt Zürich angerufen. Alle haben Mut und Vertrauen in die drei Künstler. Für Freitag und Samstag stehen bereits die ersten insgesamt sechs Serenate. Jetzt geht es wirklich los!
Tags darauf meldet sich der Kulturplatz vom SRF. Die Redaktion hat vom Trio erfahren und will dabei sein bei der Premiere. «Die Ape knattert voller Charme und Begeisterung der Kamera entgegen» schwärmen die drei, «und wir sind nach einem ersten langen und aufregenden Tag glücklich: Das Konzept greift, gibt Freude – den anderen und uns!»

Die Woche ist noch nicht vorbei. Schon am nächsten Tag sind weitere drei Serenate gebucht, eine sogar bei einem 11-stöckigen Alterszentrum. «Die Musik fliegt bis nach oben» begeistern sich die Künstler «und aus den obersten Fenstern wehen uns Wimpel entgegen. Auf Balkonen wird Walzer getanzt, die Pfleger weinen vor Freude und singen mit. Wir haben nach diesem ersten Wochenende die Gewissheit, Musik berührt die Herzen und was wir machen, ist richtig, wichtig und lässt sich durch keine digitalen Formate ersetzen, so bedeutsam diese auch sind.»
Die nächsten Wochen sind ein Wirbelwind aus Konzerten, Orten, Begegnungen, Menschen, Erlebnissen, Freude und Frohsinn. Sogar Lachen und Humor haben Platz in diesen unsicheren Tagen. Das Wetter spielt wunderbar mit. Die ersten vier Wochen bis nach Ostern sind ausgefüllt mit sonnigen Strahletagen voller Musik, guter Laune und Herzensberührungen, die die drei Künstler überall spüren, wo sie hinkommen.
Der rote Teppich für Stefanie, das Kuhfell für Alexander und seine Perkussionsinstrumente und die Ape, die Anne als Klavierhocker nutzt, ergeben zusammen mit der Musik, dem gemeinsamen Singen, auch jenem der Bewohnerinnen und Bewohner sowie ihren Pflegenden eine Einheit, die rundum stimmt und in dieser verrückten Zeit viel Hoffnung und Licht überträgt.
Mittlerweile hat «La Serenata» einen Instagram Account. Die drei treten zusammen mit dem berühmten Jo-Jo Mayer als Gastperkussionisten auf, gaben eine kleine Innenhof-Serenata für einen Geburtstag in ihrem Serenata-Team und haben erlebt, wie Kinder und Bewohnerinnen und Bewohner der Residenzen zu ihrer Musik singen und tanzen. Auch Bundesrat Alain Berset genoss eine Serenata.
Das Beispiel macht Schule. «Wir haben auch anderen Künstlern den Mut gegeben, in kleineren Formationen unterwegs zu sein», freuen sich die drei. In Nürnberg gibt es jetzt eine Balkonata, in Basel eine Coronade, das Tonhalle Orchester, die Stuttgarter Symphoniker, alle sehen im neuen Format eine Chance. Am 24. Mai trat sogar die Deutsche Oper Berlin so auf. «Musik ist jetzt überall dort, wo sie am nötigsten gebraucht wird», freut sich Stefanie, «und wir wissen jetzt: Gerade in einer Zeit der Krise braucht es Musik mehr denn je!»
Das Trio «La Serenata» hat in über 50 Serenate Menschen mit seiner Musik erreicht. «Wir danken allen Verantwortlichen, die den Mut und das Vertrauen hatten und haben, uns einzuladen; den Pflegenden, die sich mit Hingabe weiter ihren Aufgaben gewidmet haben; unseren wunderbaren Serenata-Chören in allen Einrichtungen, in denen wir zu Gast waren und allen, die diesen Traum jetzt mit uns weiter und gross träumen – viva la musica!»

Bis Ende Juni ist «La Serenata» ausschliesslich als Benefizprojekt für Seniorenzentren unterwegs. Auf der Website hat es ein Spendenkonto. Darüber hinaus kann das Trio unter www.laserenata.org gebucht werden. Ein Interview mit den drei Musikern lesen Sie auf www.seniorweb.ch: «Musik in den Höfen von Alters- und Pflegheimen» |